Bis 2020 hätte man den Videocall noch als Sonderfall des Recruiting-Gesprächs besprochen. Auch wenn wir bis dahin natürlich schon „skypten“ (die älteren unter uns erinnern sich vielleicht noch…).

Inzwischen ist der Videocall für fast alle Recruitings der gängige und etablierte erste, echte und persönliche audio-visuelle Kontakt. Meist nach einem allenfalls eher  sondierenden ersten Telefonat.

Und manchmal wird sogar ausschließlich „digital“ rekrutiert. Man trifft sich also erst am ersten Arbeitstag einmal persönlich, wenn überhaupt.

Leidgeprüft ist so etwas wie ein „Videocall-Knigge“, oder zumindest einheitliche professionelle(re) Standards, aber überraschenderweise gerade im Recruiting vielerorts überfällig scheint mir. Denn obwohl zwar auch prominente und hochdekorierte Menschen in TV-Live-Schalten regelmäßig im Bildschirmhintergrund das Bügelbrett oder den Wäscheständer stehen haben, müssen solche und andere Sorglosigkeiten im vielleicht eher journalistischen Kontext nicht Pate stehen für den Standard, den digital-virtuelles Recruiting in einer hybriden Arbeitswelt erfüllen sollte. Dabei geht es weniger um reine Netiquette, als um das Bemühen ablenkungsfrei und vor allem wertschätzend ein Kennenlernen zu ermöglichen und dabei ein professionelles Bild in einem „Arbeitskontext“ abzugeben, beiderseits.

Folgende Aspekte fallen mir als verbesserungswürdig oder zumindest betrachtenswert auf, auch da sie mir quasi wöchentlich begegnen.

Zuallererst ist die Technik zu beherrschen…. Konsens sind Facetime, Microsoft Teams, Google Meet und Zoom, möglich sind WhatsApp Videocalls oder individuell etablierte Systeme wie Jitsi oder Slack, auch Bluejeans kam mir schon unter. Soweit so gut. Easy, kann ja jeder inzwischen…

Technik beherrschen bedeutet dann aber eben auch stabil breitbandiges Netz zu haben, und nicht im Auto oder Zug zu sitzen, die aktuelle Software vor dem Start des Calls upzudaten, Bild, Licht und Ton zumutbar zu inszenieren (denn nein, das Gegenlicht aus dem großen Fenster im Hintergrund ist nicht angenehm). Auch allseits gelernt, kein Problem werden die meisten jetzt denken, denn das Anwenderkönnen ist inzwischen selten ein Thema. Dem stimme ich zu. Fast jeder kann ja inzwischen auch fehlerfrei Dokumente teilen, das Mikro stumm schalten, wenn sie oder er nicht dran ist, nebenbei chatten und sich mit Emojis und Handzeichen melden. So weit, so gut, kein Problem.

Gerade beim Recruiting leidet aber leider die Diskretion und Professionalität in Videocalls.

Offensichtlichstes Beispiel ist meistens der Video-Hintergrund.
Hier reicht die Bandbreite vom Default-Bildchen der Software-Anbieter (nett aber lieblos), über das unscharf stellen des Hintergrunds (ok, sieht aber selten schön aus), dem mehr oder weniger professionellen Echtbild des Home Office (top, aber dann bitte das Arbeitszimmer, das aufgeräumte), bis zu selbst erstellten oder corporate Marken-Backrounds (super, dann aber gerne mit Markenbotschaft und „in schön“ bitte). Denn interessanterweise werden gerade letztere, die ja geradezu nach Employer Branding schreien, erstaunlich oft wenig liebevoll, geschweige denn standardisiert und mit einer Botschaft, eingesetzt.

Der Gold-Standard sollte im Recruiting meines Erachtens das Echtbild einer durchaus persönlichen, aber aufgeräumten und professionell wirkenden und nach „Arbeitszimmer“ aussehenden Räumlichkeit sein. Kein Großraumbüro! Und so, dass die Botschaft rüber kommt, dass man sich ernsthaft und in einem beruflichen Kontext unterhält, eine gewisse Nähe und Authentizität zulässt und vor allem auch allen Teilnehmern der Diskretionsgrad transparent ist. Büros, bei denen ständig jemand durchs Bild latscht und die Bewerber nur erahnen können, wer sie sonst noch sieht und eventuell sogar hört, verbitten sich wie gesagt im Recruiting.

Ach ja, und das, was manche der eigenen Lässigkeit wegen mitunter bis hin in die Tagesschau-Schalte inszenieren (böse Unterstellung, ich weiß), ist auch im Recruiting ausnahmsweise ok, auch wenn’s mitunter manchmal stört: es ist akzeptabel, wenn Haustiere und die eigenen Kinder mal durchs Bild wackeln.
Mehr aber auch nicht, denn gerade im Recruiting darf man voneinander erwarten, dass man sich die 30-45 Minuten schon rein aus Gründen der Wertschätzung tatsächlich „frei geschaufelt“ hat.

Und bis flächendeckend der meines Erachtens überfällige „Hybrid Work Manager“ etabliert ist, der regelmäßig das Home Office besucht um Angebote (Arbeitsplatzergonomie, BGM, Familienhilfe, Tech und IT, Mobiliar,…), aber auch Auflagen (Arbeitsplatzergonomie, IT-Sicherheit und Datenschutz, Brand Fit und Professionalität des Home Office Arbeitsplatzes,…) zu machen und der damit auch so etwas wie den Videcall-Knigge etabliert und überwacht, schließe ich mit meinen Tops bzw. Flops aus achteinhalb Jahren Videocall-Recruiting (alles in echt und in ehrlich so passiert) … 🙂

„Kein Anschluss unter dieser Nummer“
Auch nach vier Jahren post-Pandemie Videocalling noch bei jedem zwanzigsten leider Usus: Das Videotelefonat mit viel Audio aber ohne auch nur ein bisschen Video… gerne begründet mit dem Software-Update. Nur in Ausnahmefällen ok…

„Winke-winke“
In puncto Diskretion nicht mal mehr eine „sechs“: Der Kollege im Großraumbüro erkennt den Bewerber und kommt mal eben rüber um nett zu grüßen. Sofort einfangen und abbrechen oder zumindest asap einen Location-Wechsel erbitten…

„Prost“
Tatsächlich schon zweimal erlebt: Der Bewerber trinkt während des „Vorstellungsgesprächs“ Bier. Aber hey, es war ja auch nach 17 Uhr, nur ein 0,3er und einmal immerhin aus dem Glas…:) Nunja…

„Vamos a la Playa“
Ok, da meist angekündigt: Recruiting-Gespräche im Urlaub per Handyvideo und unter Palmen, u.a. in Australien, Costa Rica und auf den Cap Verden. Nette Karibik-Vogelgezwitscher-Atmo inklusive…

„Kollege hört mit“
Tatsächlich sehr grenzwertig: Der Bewerber führ das Gespräch am Arbeitsplatz mit dem Hinweis, dass der Kollege mithöre und ja Bescheid wisse, dass man sich grade woanders bewerbe… sollte man abbrechen und neu terminieren…

„Ssänk ju for Trävelling…”
Das Gespräch im ICE… wird, wenn es ein echtes Recruiting-Gespräch ist, sofort abgebrochen. Alleine schon, um nicht mein eigenes Gesicht der halben Republik zu präsentieren…

„Familientreffen“
Auch, wenn das beim Telefonieren und nicht im Videocall passiert, immer wieder lustig: Der Bluetooth-Kopfhörer connectet sich während eines Gesprächs mit dem Auto und man hat den Ehemann oder die Ehefrau nebst Kindern am Hörer… passiert immer wieder, meistens sehr nett und natürlich ohne Kollateralschaden für den Bewerber…

„Putin“
Ganz wichtige Menschen haben ihre Kamera bzw. ihr Videosystem manchmal irgendwo am anderen Ende des Tisches platziert. Man erahnt das Gegenüber dann am Ende des drei Meter langen und zwei Meter tiefen Eichenholz-Sekretärs. Nunja, wer’s mag… Ist dann halt eher ein halbgutes Kreml-Gefühl im Videocall…

„Der Klassiker“
Der Wäscheständer, das Bügelbrett und generell und überhaupt immer ganz viel bunt verteilte Wäsche. Scheint vielen total egal zu sein. Ja mei, nicht verboten aber eben dann auch Teil der „first impression“, für die man keine „second chance“ bekommt…

„Nette Störenfriede“
Wie weiter oben schon „genehmigt“: Die/der Lebenspartner huscht durchs Bild, die lieben Kleinen quäken rein oder der bellende und durchs Bild wedelnde Hund hat seinen Auftritt. Mein Favorit bisher: der bei meinem Gesprächspartner zum Landeanflug ansetzende Wellensittich. Kann jedem passieren und ist meistens nett und lustig…