In den letzten Wochen ist mir ein Thema fast täglich unter gekommen im Kontext der schönen neuen Arbeitswelt: es ging allenthalben um die gute alte Wertschätzung. Mal zitiert im Kontext der Verwünschung der Generation Tinder bzw. deren Ghosting von Arbeitgebern (Spoiler 1: ich kenn es andersrum leider öfter), mal in einem gar nicht so neuen Artikel des sog. Chief Evangelist von stepstone Rudi Bauer mit der Überschrift „der Schlüssel zum Recruiting der Zukunft sind Wertschätzung und Kommunikation“ und jüngst in einem Post zum „Hire fast, fire faster“ des havarierten Lieferdienstes Gorillas.

Interessanterweise ist Wertschätzung aber auch mein „Wegbegleiter“ und „Thema“ nicht erst, seit ich selbstständig bin.

Für mich steht Wertschätzung über all dem, was sich Kandidaten und Führungskräfte so voneinander wünschen: Transparenz, ein offenes Ohr, Feedback, gerne auch konstruktives, Teamgeist, Respekt u.s.w. Wertschätzung ist m.E. „die Mutter“ aller Prinzipien einer guten Zusammenarbeit, weil innerhalb eines wertschätzenden Miteinanders Menschen wachsen können, Individualität und Diversität aber auch z.B. konstruktive Kritik erst möglich ist und es gelingen kann offen, Fehler-offen, kreativ und innovativ zu sein. Sollte ich also doch nochmal als „Kandidat“ irgendwo sitzen und man würde mich fragen, was mir am Ende des Tages wirklich wichtig wäre, es wäre die Wertschätzung.

Fehlende gegenseitige Wertschätzung ist leider aber gerade im Recruiting immer wieder ein zentrales Problem. Die fehlende Wertschätzung der beruflichen Veränderungen als Lebensentscheidung, die fehlende Wertschätzung von Lebensläufen und -Erfahrungen und die fehlende Wertschätzung der gegenseitig investierten Zeit im Recruiting sind eher die Regel als die Ausnahme. Auch schickstes Employer Branding ist ohne Wertschätzung dann nur noch billige Maskerade, da auch der einfachste Geist vom Erleben im Recruiting zu Recht auf die Kultur im Unternehmen als Ganzes schließt.

Deshalb hier meine „Tipps und Topps“ für einige ganz rasch implementierbare „basic statt fancy (mehr dazu unten…:) quick wins und low hanging fruits“ (wie wir Denglisch-Fans sagen) für ein wertschätzendes Recruiting, mit oder ohne Personalberater… 😊:

  • Auch mal was von sich erzählen! Kandidaten/innen legen schriftlich bereits mit ihrer ersten Bewerbung und meist noch vollkommen anonym ihren Lebenslauf, Zeugnisse, Kontaktdaten u.v.m. offen und werden i.d.R. in den ersten Gesprächen dann noch gebeten auch „mal etwas über sich zu erzählen“, bevor andersherum die Recruiter überhaupt mehr als Ihren Vor- und Zunamen und den Titel Preis gegeben haben. Das geht besser! Für alle, die jetzt denken, „Depp, der Busch – das machen wir doch immer schon genau so“: Glückwunsch!!! Dann gehört ihr zu einem Kreis von ca. 25% aller anstellenden Unternehmen, die ich kenne, bei denen das Usus ist.
  • Realistische Timings vorgeben! Alle, die viel rekrutieren, wissen, der next step „nächste Woche“ klappt meistens nicht, weil irgendwas oder irgendwer noch fehlt. Auch ich ertappe mich leider allzu oft dabei zu optimistische Feedbacktermine rausposaunt zu haben. Warten, Ghosten, Hinhalten als Resultat sind dann aber für alle Beteiligten meist nervig und tangieren die Lust aufeinander. Ach ja, und wertschätzend ist es ja nie, wenn man die Super-Sekundärtugend „Pünktlichkeit“ mit Füßen tritt. Also lieber „plus 5 Werktage“ planen und kommunizieren – über eine dann doch frühere Rückmeldung ist auch keiner traurig…
  • Lebensläufe und Lebenserfahrung (auch) berücksichtigen! Natürlich ist eine gute Performance im Recruiting-Prozess ein wichtiges Einstellungskriterium. Ich erlebe es aber oft, dass es DAS Einstellungskriterium ist und der verrutschte halb-Satz oder die etwas lasche Argumentationskette im Dritten Gespräch zum „no go“ deklariert wird mit dem sich die/der Kandidat/in unmöglich gemacht hätte. Einerseits bewundere ich dann die Analyse und Profiling-Skills meiner Mitrekrutierenden, die scheinbar in der Lage sind aus 4 Minuten Hängepartie in einem Gespräch 15 Jahre Berufserfahrung zu negieren, andererseits bin ich leider aber vor allem überzeugt davon, dass man sich viel Potential verbaut, wenn man sich nicht auch „zwingt“ eine ganzheitliche Analyse, auch mal mit 24h Abstand zum letzten Gespräch, zu wagen. Denn wenn wir uns alle keine zweite Chance für einen ersten Eindruck geben, wird’s schwer, nicht nur im Recruiting…
  • „Nie gehen lassen ohne…!“ Viel zu oft enden Gespräche aus Zeitgründen, weil man „sein Programm“ runter genudelt hat oder man „nicht mehr so richtig weiter weiß“. Sich beiderseitig am Ende eines persönlichen Gesprächs einmal ehrliches – wertschätzendes! – Feedback zu geben, dieses zuzulassen ohne Plattitüden, ist nicht nur eben wertschätzend, es bringt oft auch ganz viel Klarheit, z.B., ob beide Seiten eigentlich wirklich wollen. Ganz zu schweigen davon, dass in dieser letzten Runden oft auch erst die Hard Facts, das liebe Geld, nochmal offen ausgesprochen werden. „Nie gehen lassen ohne…“ bedeutet in meiner Recruiting-Praxis, dass ich mich bemühe immer zu fragen, was die/der Kandidat/in noch bräuchte, um genau jetzt verbindlich zuzusagen. Ein simpler Kniff, um nochmal auf den Punkt zu kommen, sich wertschätzend ernst zu nehmen und vielleicht den Sack (zumindest halb) zuzumachen…
  • Begründet absagen! Ja, ich weiß, absagen macht keinen Spaß, gerade, wenn es ein knappes Rennen war. Und auch ich rate dazu kurz, knapp und kompakt zu bleiben, keine Diskussionen zu führen oder gar Vergleiche anzustellen zu denen, die den Job bekommen haben. Trotzdem ist eine ehrliche Begründung einer Absage eine Frage der Wertschätzung. Und (Spoiler 2!) ihr werdet froh sein, Eure Nummer 2 aus Prozess XY eines Tages nochmal anrufen zu können bei der nächsten Vakanz (Spoiler 3: Fachkräftemangel).

Und, als hätte jemand mich belauscht beim laut Nachdenken über diesen Text, fand ich vor wenigen Tagen einen Artikel auf personalwirtschaft.de unter der Überschrift „was eCommerce vom Recruiting lernen kann“, als nahezu perfekte (Teil-) Zusammenfassung… deshalb hier nochmal ungekürzt und via copy and paste geklaut:

„Sei nicht fancy, sei Basic“ war einer der zahlreichen Vorträge auf der diesjährigen TALENTpro in München überschrieben. Artur Reich, Team Lead Recruiting for Animal Health & Pharma Supply bei Boehringer Ingelheim, versprach darin, dass man sich schon damit von 95 Prozent des Marktes abheben könne, wenn man einige wenige Grundlagen beherrsche und befolge. Ob das mit den 95 Prozent wirklich stimmt, darüber kann man sich sicherlich streiten. Der grundsätzlichen These Reichs stimmte aber wohl die Mehrheit der Anwesenden zu. Schließlich sendeten auch andere Vortragende in München ähnliche Botschaften. Unter den Basics versteht Reich dabei die Punkte Klarheit, Commitment, Struktur und Transparenz. Recruiterinnen und Recruiter sollten gegenüber den Bewerberinnen und Bewerbern ehrlich kommunizieren. Etwa, wie lange der Prozess dauert, oder auch, wieso es mit der Bewerbung doch nicht geklappt hat. 

Was sicher keine „low-hangig fruit“ ist, aber die Königsdisziplin eines wertschätzenden, statt vorgaukelnden, Kommunikation ist, ist die ehrliche Auseinandersetzung mit sich als Arbeitgeber.
Die eigene Arbeitgebermarke und damit auch den eigenen Marktwert zu kennen und danach ehrlich und authentisch zu handeln, ist ein großes Zeichen von Wertschätzung. Denn am Ende ist es wie im Dating, ehrlich sein mit den eigenen Stärken und Schwächen erspart ganz viel Frust auch bevor man sich langfristig füreinander entscheidet… Aber dazu und zu weiteren Parallelen zwischen Dating und Recruiting, ein andermal wieder mehr an dieser Stelle…

PS: …und ein „shout out“ insbes. an die lieben „jungen“ noch: Wertschätzung obliegt beiden Seiten. Ghosting, Unpünktlichkeit, sich nicht vorbereiten, drei Zusagen gleichzeitig machen u.v.m. – fallen einem in einer kleinen „People Branche“ früher auf die Füße, als manch ein/e Bewerber/in denkt (Spoiler 4…).