Die Theorie der Stärkenorientierung ist sicher vielen, auch im Sportbusiness, etwa über Gallups Strengths Finder schon mal untergekommen.

Als Beitrag zu einem glücklichen und gelungenen (Berufs-)Leben, ist Stärkenorientierung und positive Psychologie in einem New Work Denkmodell aktueller denn je, und der Dreiklang aus Talent, Zufriedenheit und Erfolg klingt plausibel:

  • Erfolg ist ein zentraler Faktor für Zufriedenheit
  • Erfolg stellt sich ein, wenn wir Dinge tun, die wir gut können
  • Dinge, die wir gut können, entsprechend unseren Talenten, also Stärken

So weit, so gut.

Warum Stärkenorientierung aber gerade im Recruiting, also erst mal abseits von Stärkenorientierung als Führungsphilosophie, wichtiger wird und mich sogar fast verleitet die Lieblingsvokabel der Kanzlerin AD zu bemühen – „alternativlos“  (übrigens auch Unwort des Jahres 2010), möchte ich gerne erläutern.

Stärkenorientierung als Grundlage zeitgemäßen Recruitings in Bewerbermärkten und in einer Arbeitswelt im Wandel.

Wie an anderer Stelle bereits erörtert, sonnt sich unsere Branche, „der Sport“, sicherlich noch eine kleine Weile in 30 Jahren Wachstum und relativ sehr großer Begehrtheit als Arbeitgeber und kultiviert so, selbst die für KMU’s, arg überschaubaren Strukturen und Prozesse im Bereich People & Culture, die man sich bis heute leisten kann, konnte.  Fachkräftemangel verortet man (noch, noch einige Monate und noch zu Recht) anderswo.

Dort, wo der Wettbewerb um die Besten, jedoch schon angekommen ist, z.B. bei IT-Jobs, Vakanzen im „digitalen Marketing“ oder beim Werben um die besten Vermarkter und Vertriebler, sieht es schon anders aus. Employer Branding steht zumindest auf der Agenda, Personalberater dürfen ran, Mediabudgets werden geplant und im Idealfall verabschiedet man sich vom Grundkonzept Vorstellungsgespräch i.S. eines Interviews und begibt sich auf Augenhöhe in einem zugewandten Recruiting-Prozess. Und in eben diesem ist dann Stärkenorientierung die Königsdisziplin.

Aber der Reihe nach…

Allem Anfang liegt die Erkenntnis zu Grunde, sich als Arbeitgeber erst mal ehrlich zu machen, das eigene Angebot zu kennen, auch im Wettbewerb, eigene Stärken und Schwächen zu verstehen, als Unternehmen aber insbesondere auch in den Teams, um dort komplementär passende Talente an Bord zu holen, statt weitere mini-Me’s.

Im Prozess selbst, also in der eins-zu-eins Korrespondenz vom ersten Call bis zum dritten persönlichen Gespräch, heißt Stärkenorientierung dann vor allem aktiv nach diesen komplementären Talenten und Stärken zu suchen, statt nach Schwächen und Herausforderungen.

Das klingt profan, unser Schul- und Ausbildungssystem und vielleicht auch unsere deutsche Mentalität on top, machen aber genau das Gegenteil: Schwächen suchen, markieren, dann aussortieren.

Aussortieren statt Anstellen sollte sich aber heute kein Unternehmen mehr leisten. Gegenseitiges nach Schwächen suchen führt nie zum Ziel, nicht im Recruiting aber auch in keiner anderen Art der menschlichen Beziehung. Sich ergänzende Stärken zu fördern, zu kombinieren hingegen, führt erwiesenermaßen zu einer besseren Zusammenarbeit und größerer Bindung, also auch zu weniger Fluktuation.

Die Grundidee der Stärkenorientierung trägt dann insbesondere im laufenden Arbeitsverhältnis: Stärken kann man Stärken, Schwächen werden jedoch nie zu Stärken. Stärkenorientierung heißt aber nicht, Schwächen zu ignorieren, es geht vielmehr darum, nicht diese zum vordergründigen Kriterium zu machen. Weder bei der Auswahl, noch bei der Personalentwicklung.

Und wie setzt man das konkret im Recruiting nun um?

Einige Beispiele, Ideen und Konzepte aus meiner Praxis:

Prozessgenauigkeit:

Jeder Recruiting-Prozess sollte klar voneinander getrennte Schritte definieren, d.h. es muss klar sein, was im ersten, was im zweiten u.s.w., Gespräch stattfindet. Und vor allem: was nicht!

Die leider häufig praktizierte Unart sich wiederholender Tribunale, in denen Kandidaten*innen auch im dritten Gespräch, dann mit der GF, erneut den CV vorlesen müssen und vor allem kritisch alles hinterfragt wird, führt nicht zum Erfolg, vergrault Kandidaten*innen. Wenn die GF den Mitarbeitern nicht zutraut in ein drittes Gespräch nur top Leute zu bringen, dann muss sie oder er höchst selbst ins Erstgespräch. Oder aber die rekrutierenden Mitarbeiter müssen sich hinterfragen, wen sie “vorlassen”.

Tribunal-Hopping funktioniert aber ganz sicher nicht mehr, das spricht sich herum und auch Kandidaten*innen, die bereits weit gekommen sind, steigen aus, wenn sie das Gefühl haben nach vielen Wochen, Terminen, Reisezeit, der Erarbeitung einer Case Study u.v.m. noch mal zum “Hütchen-dribbeln” antreten zu müssen.

Stärken-Protokoll:

Der Einsatz eines Stärkenprotokolls entlang der Stellenspezifikation und der Talente und Stärken des Teams zwingen uns per Formalie den Fokus auf eben diese Stärken zu richten.

Klingt profan, ist aber vor allem reproduzierbar für alle Kandidaten*innen und objektivierbar für alle Recruiter.
Und ganz wichtig: jegliche standarisierte Form der Analyse hilft zu vermeiden, dass unbewusste Stereotypen die Oberhand gewinnen, weil man subjektiv, improvisierend für das eigene mini-Me passend auswählt, bewertet, kritisiert.

Case Study:

Case Studies sind und bleiben relativ einfache, sehr gute und für alle Beteiligten effektive Assessment Tools. Kandidaten*innen können zeigen, was sie drauf haben, man verlässt die Ebene theoretischer Fragen um den heißen Brei herum und der potentielle Arbeitgeber sieht ganz genau, wie jemand eine Aufgabe löst, die sie oder er sowieso im Job in Woche 3 auf dem Tisch gehabt hätte.

Nun gibt es aber Spezialisten, die eine Case Study ad hoc im Termin aushändigen, 15 Min. Vorbereitungszeit einräumen und 10 Min. präsentieren lassen. Und bestenfalls die Aufgabe noch allgemein und möglichst “groß” formulieren i.S. von “bitte präsentiere eine Aktivierung für unseren Hauptsponsor”.
Eine solche “Case Study” ist das Paradebeispiel für Schwächenorientierung. Natürlich gibt es Kandidaten*innen, die auch diese Aufgabe gut lösen, man schafft aber mit der Case Study “im Termin” Rahmenbedingungen, die vor allem erschweren, verkomplizieren, geradezu das Scheitern erbetteln. Ganz zu schweigen davon, dass gute Kandidaten*innen sich einer solchen Willkürübung auch gern entziehen und gedanklich aussteigen. Man gewinnt rein gar nichts, verliert aber die Gelegenheit, dass Kandidaten*innen, die man ja bereits in mind. 1 Gespräch gut fand, unter realen Bedingungen ihr Können, Ihre Talente und Stärken, zeigen können.

Lebens-Lauf und -Leistung würdigen:

Ich hoffe hier nicht falsch verstanden zu werden, es geht bei der Stärkenorientierung gerade im Recruiting nicht darum, Kandidaten*innen gut zu finden, die im Prozess nix abliefern, nicht auf den Punkt kommen, blass bleiben. Aber in vielen Recruiting-Prozessen wird das Erleben in den wenigen Gesprächen weit überbewertet und der CV, einschlägige Referenzen, objektive Lebenserfahrung eher unterbewertet.

Ich nenne das wie oben schon einmal erwähnt: “Hütchen-dribbeln”. Denn manchmal ist es so, wie wenn man einen Bundesligaspieler mit 500 Einsätzen in der höchsten Spielklasse, der von einem top Club kommt und gestandener Familienvater ist, im Probetraining nochmal 20 Min. Hütchen-dribbeln lässt, um dann mit Genugtuung oder Verwunderung festzustellen, dass die oder derjenige in Minute 27 des Probetrainings eins der Hütchen umgeschuppst hat. Das kann man machen, man verbaut sich nur erfahrungsgemäß selbst den Zugang zu vielen Talenten, wenn man nicht auch das Gesamtbild im Auge behält und vielleicht trotz eines schwächeren zweiten Gespräches, mal ein drittes wagt, weil die oder der Kandidat eben 15 Jahre Berufserfahrung hat und bei 3 sehr relevanten Marktteilnehmern bereits ungekündigt einen Weg ging.

Befürwortern statt Kritiker das letzte Wort geben:

Und erneut eine Trivialität vermeintlich: man sollte versuchen, wenn es auf der Kippe steht für eine Zu oder Absage, auch mal die Befürworter entscheiden zu lassen. Gelebte Praxis ist meist das Gegenteil, man scheut Risiken, mag nicht Verantwortung übernehmen und verpasst so mitunter Menschen an Bord zu holen, die sich noch entwickeln können und dürfen. Oft ist dies auch der Hemmschuh für mehr Diversität, es wird nur eingestellt, wenn alle vermeintlich 100% d’accord sind. Der Mensch als Herdentier ist das meist am ehesten bei seines Gleichen…

In diesem Sinne: „Richte deinen Fokus auf die Lösung und nicht auf das Problem.“ (Mahatma Gandhi).

Stärkenorientiertes Recruiting macht mehr Freude und liefert komplementär passendere Kandidaten*innen. Und ganz nebenbei: Im Wettbewerb um die Besten ist es meines Erachtens “alternativlos”. Denn am Ende entscheiden die Kandidaten*innen in welcher Kultur sie arbeiten möchten und der Gradmesser hierfür ist vor allem auch die eigene Erfahrung im Recruiting-Prozess.